Eine Frau
Irene Dische aus DIE ZEIT Ausgabe 39/01 vom 20.09.2001
Als wir noch Kinder waren. Eine New Yorker Utopie – mitten in der Katastrophe (gekürzt).
„Der Ruf nach Vergeltung stammt nicht aus New York, sondern aus den Fernsehstudios. Widerspruch war nicht erwünscht. Aber manchmal rutschte er eben doch ins Programm. Zum Beispiel in ein haarsträubendes Interview der Fernsehikone Barbara Walters. Hinter perfekt geschminkter Mitleidsmaske fragte die Journalistin die schnell ausfindig gemachten Trauernden, was sie jetzt fühlten, unter ihnen eine Frau, die ‚ihr Liebstes‘, ihren Mann, verloren hatte. Sie alle weinten, hielten Fotografien der Opfer hoch, Verlobte, Freunde, Brüder, und sie flehten die Zuschauer an, beim Suchen zu helfen. Die Kamera verwandelte sich in einen Voyeur. Bis jene Frau ins Bild kam, deren Mann Sommelier im Windows on the World gewesen war, dem Restaurant in der höchsten Etage des Turms, der als erster fiel. Die junge Frau war traurig, aber gefasst, und sie sagte Mrs. Walters, sie wisse, dass ihr Mann tot sei, und hege keine Hoffnung, ihn je wiederzusehen. Doch sie sei sich auch gewiss, dass ihr Mann eine Botschaft an das amerikanische Volk hätte. ‚Was für eine?‘, fragte Mrs. Walters, gespannt auf einen emotionalen Höhepunkt. Die Witwe blickte direkt in die Kamera und sagte: ‚Er würde jede Rache ablehnen. Keine Vergeltung. Keine Rache. Er würde mit den Tätern sprechen wollen. Sein Tod kann nicht rückgängig gemacht werden, indem wir das Blut anderer Menschen vergießen.‘ Mrs. Walters war tief schockiert. ‚Wie meinen Sie‘, stotterte sie, ‚glauben Sie, dass wir unsere andere Wange hinhalten sollen?‘ (War das nicht eine alte christliche Idee?) Die junge Witwe wollte nicht streiten, sondern wiederholte ihren Standpunkt: ‚Ich weiß, dass er daran glaubte, ein Gespräch sei fruchtbarer als Gewalt. Wir sollten versuchen, eine Wiederholung dieses Verbrechens zu verhindern, indem wir mit denen, die uns hassen, zu einem gemeinsamen Verständnis kommen.‘ … Unter all den Wiederholungen auf den Kanälen tauchte dieses Interview nicht mehr auf.“