Thema:

| von Lutz Richter

Woher kommt der Antisemitismus?

Sinnlosigkeit macht Angst – Schuldige werden gesucht

»Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht verborgen noch zu ferne noch im Himmel, daß du möchtest sagen: Wer will uns in den Himmel fahren und es uns holen, daß wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meers, daß du möchtest sagen: Wer will uns über das Meer fahren und es uns holen, daß wir’s hören und tun? Denn es ist das Wort gar nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, daß du es tust. Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse.« 5 Mose 30,11

Einer monotheistischen Religion anzugehören oder nicht an einen Gott zu glauben scheint heute eine normale Entscheidung zu sein. Mal abgesehen davon, dass diese Entscheidung heutzutage ein buntes Spektrum von Zwistigkeiten – um es freundlich zu formulieren – zwischen den Menschen hervorbringt, bestünde tatsächlich die Möglichkeit, die Faust’sche Gretchenfrage 2024 sehr eindeutig zu beantworten. Ich würde sie so beantworten: Nun, nachdem uns durch die Wissenschaft die Möglichkeit gegeben wurde zu erkennen, dass wir Gott nicht verstehen können, sollten wir:

    • aufhören zu glauben, dass uns jemand erzählen kann, dass trotzdem Jahrmarkt im Himmel sei.
    • bekennen, dass unsere Lebensgestaltung, den Gott, den sich jeder persönlich gewünscht hat, getötet hat.
    • im Angesicht der Vergänglichkeit alles dafür tun, dass, was durch Gott symbolisiert wird – u.a. die Erde, mit all dem, was darin kreucht und fleucht –, nicht durch menschliche Aktivitäten noch mehr leiden muss, als es schon muss.
    • wissen, dass diese übermenschliche Aufgabe nicht durch Regierungen, Militärbündnisse, Monopole, Attentate, Erpressung, Korruption und sonstige allzumenschliche Vorstellungen der Besitzstandswahrung bewerkstelligt werden kann. Du und ich allein, so wie der Deuteronomist als Verfasser des 5. Buches Mose es beschrieb, können jederzeit und sofort damit anfangen: zum Beispiel aus Angst vor der eigenen Unterversorgung nicht mit Artgenossen Handel zu treiben, die Kinder arbeiten zu lassen, Frauen zu beschneiden, Kinder zu entführen, Kriege zu führen und mit Waffen zu handeln … Das können Sie dann aber getrost glauben, unser Wohlstand wird sich nivellieren und an der globalen Erwärmung hätte der Mensch dann keine AKTIE mehr.

    Der Universalismus schlummert seit Menschengedenken in allen Religionen und Philosophien. Die erste große Lüge begann damit, dass ein Mitverfasser der Genesis, des 1. Buches Mose, schrieb, der Mensch solle sich die Erde untertan machen. Dieser Satz entsprang sicherlich einem schlechten Gewissen, weil man vielleicht für die kriegerische Landnahme die Rechtfertigung eines Gottes brauchte. Diese subjektive Denkungsart hat bis heute nichts an Qualität verloren. Die zweite große Lüge besteht darin, dass wir unsere Bedürfnisse immer besser befriedigen und – was das Gleiche ist – ein gutes Leben haben müssten. Durch alles Denken zieht sich die Ambivalenz, was zu tun sei. Man wird eines Tages erkennen, dass eine von den Menschen erdachte Ethik immer eine sehr fragwürdige Handlungsgrundlage ist, weil wir nicht erkennen, dass wir uns in einem kaum zu durchschauenden Zusammenhang ergehen, sondern meinen, es uns aussuchen zu können.

    In den tausend Jahren vor unserer Zeitrechnung war es für das sich formierende israelitische Volk eine historische Meisterleistung, sich von der Vielgötterei der Großreiche zu lösen. Sie waren die ersten in dieser Gegend, die sich von den anstrengenden unterschiedlichen Verantwortlichkeiten der einzelnen Gottheiten für die unterschiedlichen Lebenssphären lösten.

    In ihrem Anspruch, sich kein Bild von Gott zu machen oder zu dokumentieren, ich »werde sein, der ich sein werde« oder auch: »Ich bin, der ich bin«(1), greifen die Schriften der Tora weit über die Aufklärung hinaus und bedienen heutige philosophische Überlegungen zu einer naturwissenschaftlichen Kosmologie.

    Die Geschichte Israels, als Staat, gehört aber nicht in den Religionsunterricht, sondern in einen wissenschaftlichen Geschichtsunterricht, gerne auch in die Kirchengeschichte an einer freien Universität.

    »Um aber die rabbinische Tradition zu verstehen, muss man deren Schriften kennen. Sie gehören hinein in einen Gesamtrahmen, den man im Judentum gewöhnlich die ›mündliche Überlieferung‹ nennt. Diese Bezeichnung umfasst die religiösen und religionsgesetzlichen Traditionen und Vorschriften, die nicht in der seit alters her schriftlich festgelegten Tora enthalten sind. (…) Nach der traditionellen jüdischen Auffassung lief parallel mit der Tora, der Israel am Sinai durch Vermittlung des Moses geoffenbarten Lehre, eine mündliche Interpretation einher, die als ebenfalls göttlichen Ursprungs der Tora in jeder Beziehung gleichwertig zur Seite steht.«(2)

    Beide Quellen, die schriftlichen und die mündlichen, sind allgemein anerkannt, was man in Abrede stellt, ist ihr göttlicher Ursprung.

    Mit der Entscheidung, auf die Fleischtöpfe des Pharaos zu verzichten und ein selbständiges Volk zu werden, sind die Israeliten in der Vergangenheit nicht nur elitär, sondern auch irgendwie revolutionär. Noah, Abraham, Moses, Elia und all die Gestalten des Alten Testaments stehen mit ihren Geschichten für den Anfang des Traums von einer klassenlosen Gesellschaft. Da wächst – so die Erzählung – über viele Jahrhunderte das nationale Selbstbewusstsein eines Volkes im Raum zwischen Mittelmeer und Persischen Golf.

    Monotheismus und die minutiöse Anwendung eines Gesetzeskodex, der dafür sorgt, das Leben des Gottesvolkes bis in die kleinsten Einzelheiten zu regeln, mit immer detaillierteren Ausführungsbestimmungen, schützt aber nicht vor allzumenschlichen Verbindlichkeiten, die sich aus ökonomischen Gesetzen ergeben, die mittlerweile auch keiner mehr in Abrede stellt.

    In den schriftlichen und mündlichen israelitischen Tradierungen vor zweitausend Jahren wird rückblickend die Vorgeschichte sehr kritisch dargestellt und als Ungehorsam gegenüber Gottes Geboten gedeutet. Dieser kritischen Distanz verdanken wir es, dass neben der Verherrlichung der Sonderstellung der Israeliten in Abgrenzung zu ihrer Umwelt auch kritische Schriften in der Tora zu finden sind. Dies rührt her von der Ambivalenz zwischen dem israelitischen Sendungsbewusstsein, »Gottes auserwähltes Volk zu sein«, und dem göttlichen Auftrag, durch richtiges Handeln gerecht zu werden. Zumal: »Das rabbinische Judentum sieht die Sendung funktional: Die Aufgabe Israels vollzieht sich auf der Ebene der Menschheit, unter der das jüdische Volk als Kronzeuge der göttlichen Wahrheit wirkt.«(3)

    Die Gemeinschaft innerhalb des jüdischen Verständnisses und der Bund mit Gott hat einen hohen Anspruch an das Tun zur Folge. Dieser Tun-Ergehen-Zusammenhang ist nicht explizit im Alten Testament ausgesprochen, eher ist er immer in allen Geschehnissen gegenwärtig.

    Im Buch der Könige ist zu lesen: »Und Ahab tat Dinge, die Gott missfielen.«(4) Und es ist durchaus möglich, dass orthodoxe Juden in x Jahren schreiben werden: »Netanjahu tat mehr, den HERRN, den Gott Israels, zu erzürnen, denn alle Könige Israels, die vor ihm gewesen waren.«(5) Aber die orthodoxen Juden tun es leider nicht, zumindest nicht mit politischer Wirkung auf den Staat Israel. Aus ihrem ureigensten Verständnis heraus müssten sie es aber. Dann wären sie antiisraelisch.

    Die Kritik an Ahab stammt aus einer Zeit, in der Religion und Staat eins waren. Alles wurde im Lichte der mosaischen Gesetze geplant, durchgeführt und bewertet – ob das die kleinen Schweinereien des Königs waren, sich eines kleinen Weinberges zu bemächtigen, oder die pekuniären Absprachen der jüdischen Elite mit den Babyloniern im Exil und später mit den Römern. Recht und Unrecht wurden im Kontext der Religion reflektiert. Der Vergleich mit Netanjahu wäre bis hierher völlig am rechten Platz, wenn wir die Gesetze Gottes aus dem Alten Testament nach wie vor als Maßstab nehmen würden.

    Es sind drei Umstände seit Moses eingetreten, ohne die eine objektive Einschätzung der heutigen israelischen Situation nicht den Ansprüchen genügt, die eine vornehme Seele im Sinne Nietzsches anlegen müsste. Die vornehme Seele ist geleitet von achtungsvoller Scheu und Respekt.

    1. Der Anspruch und die Wirklichkeit der jüdischen Religion bekommt es zu Beginn unserer Zeitrechnung mit einer Religionskritik zu tun, die die Menschheit bis heute polarisiert. Jesus zerpflückt den elitären Standesdünkel innerhalb der jüdischen Gemeinschaft und greift das jüdische Establishment an, weil es die eigene Inkonsequenz nicht hinterfragt, die darin besteht, keinen wirklichen Gehorsam zu leisten – wie er sich zum Beispiel so ausdrückt: »Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen«(6). Jesu revolutionäre Wichtung eines gerechten und umweltschonenden Gehorsams war nichts für die Juden, die sich mit den damaligen politischen Gegebenheiten arrangiert hatten. Um es gleich klar zu sagen: diese Kritik eines Jesus war auch nichts auf Dauer für die jesuanische Gemeinde nach Jesu Tod. Es war sowieso nicht die Institution Kirche, die die jesuanische Revolution der Gewaltlosigkeit weitergab, sondern wahrscheinlich immer nur ein einzelner Märtyrer oder auch die nie in Erscheinung getretenen Menschen, der sich lieber »kreuzigen« ließen, als zum Beispiel für Kaiser, Volk und Vaterland zu töten oder Granaten zu drehen.

    Das Ergebnis war vor zweitausend Jahren eben nicht die Reformierung des jüdischen Gesetzesverständnisses, sondern es blieb bei dem elitären Glauben an die Auserwähltheit des israelitischen Volkes – ein unaufgeregtes Geschichtsverständnis, ganz gleich in welchen Ländern man zu Hause war und ist, keinerlei Bedürfnis, sich durch die Bilder anderer Religionen assimilieren zu lassen, und – was nie vergessen werden darf – »die Juden hatten niemals die Möglichkeit, ihr monotheistisches Konzept den Anhängern anderer Religionen aufzuzwängen, wie es Christen und Muslime dann im allergrößten Ausmaß getan haben.«(7) Das seit Konstantin dem Großen mit der weltlichen Macht verbundene Christentum wollte missionieren, was aber nie der Anspruch des Juden Jesus gewesen war. Er war kein Religionsgründer.

    Seit Konstantin bediente sich der Staat mit christlicher Attitüde der Gnade Gottes, um mit allerlei bunten Bildern die Ausbeutung des Menschen und der Natur durch den Menschen zu rechtfertigen. In dieser Rechtfertigung musste es auch Vertreter des Bösen geben, um – nach den Motto »Haltet den Dieb!« – einen Schuldigen für dies und jenes zu finden, was man selbst nicht gebacken bekam.

    Der »Jud« war ein gefundenes Opfer. »Durch die Erwählung grenzt sich (bzw. grenzt Gott) Israel aus dem Kreise der Völker aus. Das Gesetz zieht einen hohen Zaun um das erwählte Volk und verhindert jede Kontamination mit oder Assimilation an die Vorstellungen und Bräuche der Umwelt. Zur Selbstabgrenzung bedarf es keiner Gewalt, zumindest keiner Gewalt gegen andere.«(8) Die internen »jüdischen« Auseinandersetzungen in Sachen Gesetzesauslegung und fremde Götter waren sicherlich nicht gewaltfrei, aber für das »Ausland« eher uninteressant.

    Während die Juden an sich geneigt waren, ihren schriftlichen verbalinspirierten Gottesworten weder ein Iota(9) zu nehmen noch eines hinzuzusetzen, entwickelte sich aus dem jesuanischen Angebot des Überfliegers und Friedensfürsten Jesus eine gewaltbereite Religion: das Christentum. Vorsehung, Auserwähltheit, Vergebung, Ablass, Missionierung, Vertreibung waren geeignete Mittel, um in der Zeit allumfassend (das bedeutet katholisch) allen Völkern die Botschaft der Vergebung der Sünden durch das Gottesopfer Christi zu verkaufen – und die Mär gleich mit, die Juden seien es gewesen, die die Kreuzigung des Heilands zu verantworten gehabt hätten. Als wäre das typisch, dass nur Juden ihre Märtyrer massakrieren.

    Das konnte auch der Reformator Luther nicht geradebiegen. Das jüdische Gebot der Bildlosigkeit konnte er nicht wiederherstellen. Er brach zwar die Überheblichkeit des katholischen Klerus, aber auch er scheiterte an dem jesuanischen Anspruch, sich eher kreuzigen zu lassen als ein Reich des Schwertes zu akzeptieren.

    Die Liste der christlichen Konfessionen seither war nicht lang, nein, sie ist noch lang. – Inhomogener kann eine Religion nicht sein, wie es die christliche ist. Wer selbst Teil einer solchen Gemeinschaft war oder ist, weiß, wie schwer die Überwindung der Grenzen zwischen den individuellen Gottesbildern der Menschen ist. Wie schwer man sich tut, die Grenzen auszuloten, was man in der Welt noch mitmachen kann und was nicht.

    Dem größten Teil der Christen geht es ab, zu akzeptieren, dass es wirklich etwas sehr Grundlegendes in der Tora gibt, das darin besteht, unsere Grenzen auf diesem Planeten aufzuzeigen. Dabei sind Verbote, Gebote und Regeln Möglichkeiten, sich vorsichtig einem Gesamtzusammenhang zu nähern, den dem Universum abzuringen wir gerade erst begonnen haben. Diese Annährung muss in einer Atmosphäre von Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung erfolgen, immer in der Gewissheit, dass wir Teil der Schöpfung sind. Wenn die jüdische Gemeinde Jesus nicht verstanden hat, dann waren die historischen Bedingungen für einen Überflieger noch nicht reif. Aber heute sind sie überreif.

    Der jüdische Monotheismus wollte von Anfang an Grenzen zu den anderen Religionen. Das Gesetz war eine Mauer um das auserwählte Volk. Das Selbstverständnis definierte sich über das von Gott gegebene Gesetz. Und dieses Gesetz zu verehren können Sie anderen Völker nur anbieten, wenn Sie selbst diesem Anspruch gerecht werden. Das Volk Israel, als Glaubensgemeinschaft, hat vielleicht sogar eine avantgardistische Rolle im Abendland, aber beim Studium anderer großer Hochkulturen stellen wir zumindest auch bei anderen gleichwertig Universelles fest. Dem aufgeklärten Hindu zum Beispiel und vor allem dem Neo- Hinduisten brauchen Sie nicht mit theologischen Spitzfindigkeiten zu kommen, der assimiliert sie alle gleich mit, nachdem er sie mit der Grimm’schen Begrüßung: »Ick bün all hier« in ihre Grenzen gewiesen hat.

    Keiner der abrahamitischen Religionen ist es bisher gelungen, sich aus der Verquickung von universellem Anspruch und zeitgeistiger Überheblichkeit zu lösen. Die Inkonsequenz in Sachen Gehorsam macht die abrahamitischen Religionen so interessant für allzumenschliche Theologien, die Pflichten und Grenzen beliebig verschieben, wie es gerade politisch und vor allem wirtschaftlich nützlich ist. Jeder gläubige Jude, der sich nicht den Machtansprüchen eines Ahab oder Netanjahu widersetzt – wohlgemerkt: erst mal nur als gläubiger Jude –, wird dem Anspruch der Tora nicht gerecht. Ein Christ hat immer noch eine Hintertür: die Vergebung durch Gottes Gnade – meint er zumindest.

    2. Die Trennung von Kirche und Staat

    Als die Aufklärung, die Religionskritik und die kapitalistische Produktionsweise das Licht der Welt erblickten, wurde die Allianz von weltlicher Macht und scheinheiligem Gehorsam in allen Religionen sichtbar und zunehmend natürlich erklärlich. Die vermeintliche Freiheit des Menschen brauchte keine Begründung religiöser Art und dann noch in einer immer widersprüchlicher werdenden Allianz von Institutionen des gesellschaftlichen Lebens und dem Klerus und seinen geistlichen Würdenträgern.

    Was nützt und Freude bereitet, muss produziert, gehandelt, verkauft und vor allem konsumiert werden. Gott ist Sonntag oder hängt als Bild an der Wand. 1871 prägte der spätere Friedensnobelpreisträger Ferdinand Buisson das religionsverfassungsrechtliche Modell des Laizismus, dem das strenge Prinzip der Trennung von Religion und Staat zugrunde liegt.

    Ich erlaube mir dieses Ereignis im Verhältnis zu anderen, vielleicht wesentlich wichtigeren historischen Ereignissen hier hervorzuheben, um zu zeigen, dass irgendwann klar wurde, dass mit dem Streit um Gottesbeweise, Glaubensbekenntnisse, Pfründe und die Höhe der Kirchensteuern keine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse herbeizuführen ist. Um die neuen Produktivkräfte, die Wissenschaft und Technik vorantreiben sollten, nicht zu behindern, musste das Bildungsmonopol der Priester und Pfarrer eingeschränkt werden.

    Ob sie nun beschnitten, getauft oder geweiht sind, es wäre enorm wichtig, dass dieser Kultus keine trennende Lebensweise mehr symbolisiert. Genauso ist es völlig inakzeptabel, theologische Themen mit der Tagespolitik zu verbinden.

    Verbalinspiration, Schöpfungsmythen und göttliche Offenbarungen tragen immer zu einem verklärten oder mystischen Erlebnishorizont bei. Zwei völlig verschiedene Wertesystem prallen aufeinander und werden zu einer politischen und populistischen Kakophonie (Chaos statt Musik). Das Hauptproblem dabei ist die Verlagerung der Lösung unserer Probleme in eine andre Welt oder in eine andre Zeit.

    Gott wird wieder salonfähig, nicht weil wieder alle an Gott glauben würden, sondern weil der Tanz ums Goldene Kalb(10) unsere täglichen Lebensabläufe so stark beeinflusst, dass es dafür keine kurzfristigen, abrufbereiten naturwissenschaftlichen Begründungen gibt. Die Flucht ins Übersinnliche scheint die schnelle Abhilfe für die Sorge um den nächsten Tag bereitzustellen. Multikulti ist nicht unser Problem. Das populistische Durcheinander, die Wiederaufbereitung alter Ideologien, pietistisches Gedöns und haarsträubende Verschwörungstheorien scheinen der Wirtschaft nur zu willkommen zu sein. Man hört sie regelrecht rufen: »Macht und glaubt alles, was ihr wollt, Hauptsache ihr lasst uns weiter akkumulieren, profitieren und konsumieren.« Und alles, was zu kassieren oder zu archivieren wert war, buddeln Heerscharen von Unternehmerverbänden, Medienkonzernen, Thinktanks, Stiftungen, Instituten wie die Bertelsmann Stiftung, Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft GmbH, Institut Solidarische Moderne e.V., Correktiv oder auch die Bildungsstätte Anne Frank wieder aus, um den Kapitalismus vor den Kritikern zu schützen und um ihre hochdotierten, völlig nutzlosen Stellen zu sichern. Mit vermeintlich wissenschaftlichem Anstrich reden sie den faulenden Kapitalismus schön.

    Überall ist der liebe Gott wieder mit dabei. In den Schulen gleich dreifach: an der Wand des Klassenzimmers, um den ANDEREN zu zeigen, wo der Hammer hängt, im Biologieunterricht, wo man auch nicht vergessen soll, dass es neben der Evolution eine noch viel schönere und viel einfachere Schöpfungsgeschichte gibt, und im Religionsunterricht als formeller Akt der gebetsmühlenartig Wiederholung der Geschichten der Gottesbilder, um wiederum neue Bilder zu malen, die dem angepassten Mainstream der Gesellschaftswissenschaften entsprechen. Das Ganze von eifernden Eltern und Gutmenschen überwacht.

    3. Ein Duales Weltbild wirkt heute toxisch.

    Ob etwas wirklich revolutionär für unsere Lebensweise ist, zeigt sich in seiner Nachhaltigkeit für das gesamte natürliche Gleichgewicht. Das Erste(11) wie auch das Zweite Testament sind im Wesen zweigeteilt (siehe oben). Diesen Blick kann ich aber nur haben, wenn ich beide Quellen als Offenbarungen eines Gottes ablehne. Dann reißt der Vorhang in jedem Gotteshaus dieser Welt. Trenne ich nicht den universellen von dem mir subjektiv vermittelten Anspruch, dann besteht die Gefahr von Bewusstseinsstörungen, die eindeutig ihre Ursachen in einem inhomogenen Weltbild haben, weil ich mich im Kreise drehe und nicht mehr weiß, was zu tun ist.

    In dieser Dialektik zwischen dem Gehorsam gegenüber einer neutralen, universellen, friedlichen Macht und der Konsequenz, auf individuelle Macht gegenüber dem Anderen zu verzichten, liegt der Heilungsansatz für heute.

    Beide Stimmen sind im Ersten Testament und vor allem auch in den fünf Büchern Mose, die die Tora bilden, miteinander verwoben. Die Stimmen, die dort zu Wort kommen, wie die Elia-Geschichten inmitten der martialischen Königsbücher, verkünden Umkehr und Vertrauen. Und ja, die Zerstörung des Tempels der Juden war aus der Sicht der im Exil sitzenden Schreiber nicht die Schuld aggressiver Großmächte, sondern es war die Strafe Gottes für den Ungehorsam des »Hauses« Israel.

    Tun und Strafe waren eine Einheit. Neubabylonier und Römer waren Erfüllungsgehilfen Gottes. Es machte Sinn, aber gebar keinen Hass und keine Gewalt. Der Gott der Verlierer war stärker als der Gott der Gewinner. Das war für die »Welt« neu. War das der Anfang der Unbeliebtheit der Juden, wegen ihres selbstsicheren Sinnverständnisses von ihrem Leben mit Gott?

    Der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist noch da, aber nicht mehr als kausaler Zusammenhang von Schuld und Ungehorsam.

    Die Militärs und deren politische Unterhändler werden heute nicht müde zu betonen, dass keiner Krieg will, aber wir müssen doch unsere Werte, unser Volk und unseren persönlichen Gott (und wenn das nur unser Auto ist) verteidigen. So reden sie ohne Sinn und Verstand unsere Kinder in den Krieg. Der Hohepriester hätte seinerzeit gut daran getan, sich der von Jesus vorgebrachten Kritik anzuschließen. Die Zeit war damals schon reif, nicht für Reformen, sondern für das Grundsätzlichste.

    Was muss sich ändern?

    Als erstes müssen die ran, die meinen, sie sind ganz nah bei Gott. Die orthodoxen Juden sollten nicht kleine Zettel mit Wünschen in die Nordmauer des zerstörten Tempels drücken, sondern ihre Quasten, Gebetskapseln und Tora-Rollen der Knesset auf den Tisch knallen und sich aller staatlichen Ämter entledigen, solange die Palästinenser nicht mit im Raum sitzen und gemeinsam mit den Israelis EIN Land regieren. Heute muss jeder Christ konvertieren: Entweder er lässt sich beschneiden, wenn er gar nicht ohne Gott auskommen kann, und nimmt das Zweite Testament zu den Gebetskapselträgern mit und versucht ihnen die Gehorsamsethik von Jesus zu erklären und sich für den halbherzigen messianischen Versuch eines Christus zu entschuldigen.

    Oder Jude und Christ werden historische Materialisten und überwinden die Selbstversuche, sich auf Kosten anderer ein schönes Leben zu machen.

    Als zweites müssen die ran, die denken, sie brauchten keinen Gott.

    Es wäre illusorisch zu glauben, dass die Reichen hingehen und ihren Besitz mit den Armen teilen. Die Zeit ist noch lange nicht bereit, die jesuanische Botschaft des Gewaltverzichts und des Gehorsams gegenüber einem universellen, von der Schöpfung vorgegebenen Zusammenhang umzusetzen und auszuhalten. Die Not wird für die Überlebenden Einsicht bringen – für die im Exil, wenn sie noch Papier und Stift finden; für die Gefallenen kommt natürlich jede Einsicht zu spät.

    Aber was jetzt gleich möglich wäre: Hört auf, den Schwachsinn, den wir seit Tausenden von Jahren verzapft haben, einer künstlichen Intelligenz zu überlassen. Es wird die Welt in eine Wüste der Verantwortungslosigkeit verwandeln, bei der am Ende keiner mehr weiß, was er tun soll, außer vielleicht zu kiffen. Die Juden würden ihr Stigma nicht mehr los, obwohl sie die bildlosesten unter den Gläubigen waren und sind. Aber auch als religiöse Menschen sind sie wie alle anderen einfach nur Bürger eines Staates. Und genau hier müssen sie sich entscheiden.

    Lutz Richter

    Quellen:

    (1) 2 Mose 3,14.

    (2) Kurt Hruby: Aufsätze zum nachbiblischen Judentum und zum jüdischen Erbe der frühen Kirchen. Berlin 1996, S.21.

    (3) Siehe Hruby: Aufsätze, S.57.

    (4) 1 Kön 16,30. Ahab war von etwa 873 bis 852 v.Chr. König des Nordreiches Israel, während im Süden das Königreich Juda lag.

    (5) In Anlehnung an 1 Kön 21,25 u.a.

    (6) Matthäus 5,44.

    (7) Rolf Rendtorff: Ägypten und die »Mosaische Unterscheidung«. In: Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung. Oder der Preis des Monotheismus. München 2003, S.193–208, hier S.206.

    (8) Assmann: Mosaische Unterscheidung, S.31.

    (9) 5 Mose 4,2: »Ihr sollt nichts dazutun zu dem, was ich euch gebiete, und sollt auch nichts davontun, auf daß ihr bewahren möget die Gebote des HERRN, eures Gottes, die ich euch gebiete.«

    (10) Das Goldene Kalb, wörtlich der »goldene Stier«, war im 2. Buch Mose ein Kultbild des Götzendienstes, also ein Symbol für den Ungehorsam gegenüber JHWH. Wir müssten heute schreiben: Wallstreet Bulle oder Bär der Börse in Frankfurt.

    (11) Es ist die Überheblichkeit des angelsächsischen christlichen Religionsverständnisses zum Alten Testament, diese Bezeichnung alt und neu zu wählen. Es war nicht das Nacheinander, sondern das machtpolitische theologische Kalkül gegenüber einer »fremden Religion«. So ging lange Zeit verloren, dass Jesus kein Religionsgründer war, sondern lediglich ein zeitgenössischer Kritiker am Glauben der Väter und an dem der Staatsmacht. Darum schließe ich mich der modernen Religionskritik an und spreche vom Ersten und Zweiten Testament.

    Zurück zur Newsübersicht