Thema:

| von Lutz Richter

Unser Zeug ist nicht mehr zur Hand

Demenz als Schutz vor Reizüberflutung?

Es macht mir keine Angst, an Demenz zu erkranken. Es ist nur ernüchternd, mit welcher Gleichgültigkeit die Materie auf meine Mitwirkung so einfach verzichten kann.

Oder ist es ihre Gnade, dass sie einige von uns sich ausschleichen lässt? Ist die Demenz der Schutz vor der Angst, die Krankheit zum Tode? (1)
Nicht das Ende ist es, was uns Sorgen bereiten sollte. Bevor wir nämlich solche tiefgründigen Fragen nach dem Sinn unseres Lebens stellen, die uns lustig oder Angst machen, bedarf es einer kleinen Weile der Orientierung kurz vor dem Tod, an all dem, was die Natur nebst menschlichen Erfindungen bis hierher so bereithält.

Dem Verfasser war es nicht vergönnt, eine Naturwissenschaft zu studieren. Wenn er sich naturwissenschaftlichen Sachverhalten annähert, wird er es als Laie tun. Auf das Gelächter des honorierten Wissenschaftsbetriebes, der erst Gutachten, Zertifikate, Urkunden und amtliche Nachweise benötigt, um uns Kritiker hineinzulassen in das politische Dunkel von Barem und Wahrem, werde ich mit gönnerhaftem Schmunzeln reagieren. Ich bin mir gewiss, dass mir allein wegen des Verzichts auf die nebulöse Welt des Idealismus und der Religionen, dem noch immer die Mehrheit der akademischen Welt anhängt, der Beifall der nächsten Generationen sicher sein wird. Nur werde ich sicherlich nicht eines natürlichen Todes sterben. Denn sehr viel Wahrheit hält das jetzige System nicht mehr aus. Das hat natürlich einen Vorteil: Mir bleibt der Übergang zur Demenz erspart.

Das Problem der Wahrheit lässt sich nur reflektieren, wenn wir bereit sind, unser Denken als Bestandteil der Natur zu definieren. Da wir Tausende von Jahren in einem dualen System von Fleisch und Geist gedacht haben, blieb der Teil, der eigentlich unser Leben bestimmt, die Natur, ein notwendiges Übel, aber nicht die Quelle unserer Freiheit. Diese erschließt sich uns aber nur, wenn wir sie, die Natur, in, an und um uns zufriedenstellen. Man sollte besser sagen: bedienen.

Die großen Irrtümer und Fehleinschätzungen der Menschheit resultieren immer aus der Not, den nicht erkennbaren Teil der Ursachen durch unwissenschaftliche, nicht bewiesene Geschichten zu ersetzen.
Der größte Irrtum unsere Zeit ist die Propagierung der Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums für die Erhaltung unserer Werte und zur Sicherstellung des guten Lebens.
Das ist einfach nur zu kurz gedacht. Zuviel subjektiver, egoistischer Denkersatz verunstaltet die Auswertung des Gesamtzusammenhanges. Die kapitalistische Produktionsweise bringt gesetzlich die notwendige Kohle (Kapital) zusammen, um gigantische wissenschaftlich-technische Neuerungen – quasi an der Evolution vorbei – in den Alltag zu spülen.

Der Abgleich, ob etwas wirklich notwendig ist und ob es in den natürlichen Gesamtzusammenhang der Erde passt, findet erst statt, wenn der Zauberlehrling nicht mehr zu bändigen ist. Somit werden die Errungenschaften zu unkontrollierbaren Produktivkräften, die auch noch herzlich eingeladen werden, uns selbst wegzurationalisieren.

Das alles, liebe noch Lebende, wird uns als ein demokratisches System verkauft.
Nun macht uns die gutverdienende Zunft der Parlamentarier weis, das alles sei alternativlos.
Vom Standpunkt der Macher dieser multimedialen Planetenzerstörung ist es wichtig, die Einteilung von Arm und Reich als ein gottgegebenes System oder als ein Naturgesetz einfach anzunehmen. Es fällt natürlich immer schwerer, beim Anblick der globalen Irrtümer dieses Modell aufrechtzuerhalten.
Die Linken wollen den Kapitalisten waschen, aber nicht nass machen. Die Rechten brauchen gar nichts zu machen, dafür sorgt schon die Politik der Koalition von Union und SPD. Und der Rest sitzt im Elfenbeinturm oder zu Hause und hofft, dass es schon nicht so schlimm werden wird.

Aber, dem aufmerksamen Studenten (2) wird es nicht entgangen sein, dass die Art von Freiheit, die wir uns gönnen, eine zunehmende Veränderung der Biosphäre hervorruft. Die Natur wehrt sich nicht mit Bewusstsein – das könnten nur wir –, nein, sie reagiert.
Es kommt noch schlimmer. Selbst diese Reaktionen der Natur, z.B. der Suizid eines Schülers oder das Töten einer Ehefrau, werden noch falsch gedeutet. Es werden die Fenster vergittert und Fußfesseln verordnet. Wir übertünchen die schrecklichen Folgen des gesellschaftlichen Verfalls mit lapidarem Aktionismus.
Die unermessliche Fülle von Informationen über Wichtiges und Unwichtiges in unserem Leben bringt unser Denken ins Schlingern. Anhaltspunkte, Grenzen, Spielräume, kurz der ganze Mechanismus der Orientierung löst sich auf.

Es geht hier nicht um den Austausch von alten, falschen Informationen gegen neue und bessere. Zumal diese gar nicht mehr zu unterschieden sind. Es geht um die Fülle und die Schnelligkeit, wie unser Zeug unsere Zuhandenheit (3) verlässt. All das Zeug, mit dem wir zu tun haben, wird missverständlich. Dass man mit dem Hammer nicht nur Nägel einschlägt, sondern auch Schädel, war gestern. Heute ist: Mit dem Handy kann man telefonieren, aber auch töten.
Die Exekutive wird der Legislative immer hinterherrennen, weil die Architekten der Legislative selbst die Täter sind. (4)
Wir werden dabei schlichtweg wirr. Der Psychiater wird morgen zu seinem Patienten sagen: »Bitte gehen Sie erst ins Labor und lassen Sie sich von Krypto Ihr Gedächtnis auslesen, damit ich erkennen kann, wann Sie das natürliche Bewusstsein zugeschüttet haben, und vor allem womit.«
Die neurologischen Schaltkreise brennen durch. Die Reizüberflutung wird billigend in Kauf genommen, wenn nur der Konsum der neuen Informationen gesichert ist und die neuen Arten der Informationsübertragung gekauft werden. Der Kollaps ist Teil des Konzeptes geworden und wünschenswert, da er neue Märkte und Möglichkeiten für die Bürger erschließt.

 

Lutz Richter

P.S.:
Blüms Renten sind nicht mehr sicher. Geben Sie Ihr Erspartes der Bundesregierung, die wird es in fiktives Kapital umwandeln. Merz kennt sich da bestens aus. (5)

Quellen

(1) Die Krankheit zum Tode, 1849 unter dem Pseudonym Anti-Climacus erschienen, ist eines von Søren Kierkegaards späteren Werken. Es beschäftigt sich aus der Perspektive des Christentums mit dem existenziellen Problem der Verzweiflung.

(2) Das Wort studieren kommt von lateinisch studere »sich bemühen«.

(3) »Zuhandenheit« ist ein zentraler Begriff in Heideggers Analyse des menschlichen Daseins (siehe sein Buch Sein und Zeit).

(4) Verstehen Sie nicht? Genau aus diesem Grund haben die Jünger Jesu ihn im Markus-Evangelium nicht verstanden. Das ist die Genialität von Jesus, erkannt zu haben, dass wir uns nicht selbst unter ein Gesetz begeben können, das wir selbst gemacht haben. Dazu fehlt uns einfach der Überblick, damals wie heute. – »Und sie hatten vergessen, Brot mitzunehmen, und hatten nicht mehr mit sich im Boot als ein Brot. Und er gebot ihnen und sprach: Merkt auf, seht euch vor, vor dem Sauerteig der Pharisäer und vor dem Sauerteig des Herodes. Und sie überlegten hin und her, weil sie kein Brot hatten.« Markus 8,14–21.

(5) Siehe https://correctiv.org/aktuelles/wirtschaft/2025/01/28/bester-mann-der-grosskonzerne-das-lobby-netzwerk-von-friedrich-merz/.

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