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| von Lutz Richter

»Ich bin ein ausgezeichneter Fahrer.«

Autismus: Die vom Universum vorgeschlagene Selbstbegrenzung bei Informationsüberflutung

Den Satz oben spricht Dustin Hoffman in der Rolle des Raymond Babbitt in dem Film Rain Man von 1988. (1) Seither scheinen alle wenigstens einen Autisten zu kennen.

Ich weiß nicht, welche genetischen Veränderungen oder Prädispositionen dafür verantwortlich sind, dass es unter uns Menschen gibt, denen wir neuronale Störungen zuschreiben und die wir so als etwas Abartiges, Ungesundes, zu Behandelndes plakatieren.

Die Zoologie ist da großzügiger. Wenn sie in der Natur noch nicht katalogisierte Kreaturen entdeckt, wird man sich hüten, von Störungen zu sprechen, wenn zum Beispiel die Augen bei einem Insekt auf den Rücken angebracht sind und diese sich um 270 Grad drehen können. Oder denken wir nur an Mantis religiosa (Gottesanbeterin), bei der das Insektenweibchen das Männchen nach dem Geschlechtsverkehr verspeist.

Alles wird diszipliniert und interdiszipliniert als evolutionsbedingte Notwendigkeit eingestuft. Keiner wird hier von Störungen sprechen. Im Gegenteil, früher oder später, wenn die Wissenschaft dann soweit ist, kommt der Nutzen für die Evolution ans Tageslicht. Im Falle von Mantis religiosa »ist es (…) auch für das Männchen sinnvoll, sich vom Weibchen bei der Paarung fressen zu lassen, wie die Royal Society bereits 2016 wissenschaftlich untermauerte. Das Gelege macht 30 bis 50 Prozent des Gewichts des Weibchens aus, somit ist ein schwereres Tier in der Lage, deutlich mehr Eier zu produzieren. Die rund 30 Prozent der Männchen, die Opfer von Sexualkannibalismus werden, tragen somit dazu bei, dass sie mehr eigenen Nachwuchs zeugen«. (2)

Zurück zum heutigen Mensch, dem Homo oeconomicus, den man später als Bindeglied zwischen Affe und Homo superior (Übermensch) katalogisieren wird.

Interessant ist zumindest für mich, mit welcher Selbstsicherheit die neurowissenschaftliche Forschung (3) bei Autismus von der Störung der neuronalen Entwicklung spricht.

Mit zunehmender Wohlstandsverwahrlosung und sich verbreitenden hyperneurotischen Tagesabläufen scheinen sich plötzlich diese angeborenen oder frühkindlichen Defizite als Überlebensvorteile herauszustellen, um solchem Zeitgeist auf Dauer standhalten zu können.

Der hedonistische Überkonsument benutzt sein Bewusstsein immer seltener für eine kritische Erschließung der zeitlichen Dimension seines Daseins, und es gibt immer weniger Selbstbewusstsein – dafür aber eine nicht mehr zu ordnende und zu durchschauende Informationskultur einer blind ins Entertainment rasenden Herde.

Der durch die soziale Ungerechtigkeit von Arm und Reich eingeschränkte wechselseitige soziale Umgang und Austausch mit seinem Vis-à-vis ist für den Autisten kein Verlust oder unangenehmes Gefühl. Im Gegenteil: Dass er selbst seine Positionierung akzeptiert, geschieht in Abstimmung mit seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Es bedarf keines Dritten, um glücklich zu sein. Der Dritte kommt nur ins Spiel, damit der Autist versteht, warum die anderen, die Normalen, so komisch sind und warum man den Arbeitgeber während des Einstellungsgesprächs nicht gleich nach dem ersten Urlaub fragt.

Ich habe in der Schule noch gelernt, dass die Sprache eine Errungenschaft der Menschheitsentwicklung ist. Da inzwischen aber alles gesagt ist, was gut und böse ist, sich aber keiner daran hält – wozu dann noch große Worte machen? Es strengt einen Autisten an, Fragen zu beantworten, wo er sich sicher ist, dass sie nicht der unmittelbaren Zuhandenheit dienen. Eventuell, wahrscheinlich und das ist nicht sicher sind wie Viren in Hornissengröße, die in den Kopf wollen, um dann den Wohlfühl-Algorithmus des Tagesablaufs zu stören.

Das ist keine Überheblichkeit, wenn dann nur bruchstückartige Versuche von Antworten kommen, nein, das ist der reine Selbstschutz. Hören Sie genau hin, wenn Sie mal die Gelegenheit haben, einen solchen Typen zu treffen. Zwischen den Zeilen höre ich immer: Was kümmert ihr euch denn um die Spatzen, was sie morgen fressen werden …? Lasst mich doch in Ruhe, in fünf Minuten habe ich Feierabend, und ich muss noch alle Fenster im Büro zumachen.

Der erfahrene Autist, also der, der mehrere Handlungskontinuitäten nebeneinander ablaufen lassen kann, ohne gleich in Panik zu verfallen, merkt ganz schnell, wenn das Gespräch nur der Unterhaltung dienen soll. Für einen gesunden Autisten ist die kurzweilige Unterhaltung nicht undenkbar, aber dann bitte an einem dafür vorgesehenen Platz und zu einer geplanten Zeit. Geschieht es zum unpassenden Zeitpunkt, kommt es zum Gegenangriff.

Der Autist bedient sich dann gern der Prosaform des Aphorismus, um seinem Gesprächspartner einen für ihn an dieser Stelle wichtigen Gedanken anheimzugeben. Wenn Sie in den Genuss derartiger komprimierter archivierter Lebenserfahrung kommen sollten, dann schauen Sie tief in das, was SEIN ist. Die Wirkung, die er mit dem Abruf dieser einzigartigen Erfahrungen bei Ihnen erreicht, ist ihm völlig unwichtig. Es zählt nur der Wille, diese unangenehme Situation, nämlich sich mit Ihnen zu unterhalten, so schnell wie möglich zu beenden. Zarathustra gleich, der tanzend auf dem Seil dem Publikum entflieht, sucht der kritische Geist einen geeigneten Weg aus der nichtentscheidungsfähigen Herde, und wenn die Flucht auch nur mit den Augen gelingt.

Wir sollten vorsichtig sein. Solange wir Leid, Sorgen und Nöte nicht in mathematischen Gleichungen ausdrücken können (4), tun wir gut daran, davon auszugehen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse Ursache für unsere Befindlichkeiten sind und vermeintliche Fehlentwicklungen manchmal die Lösung.

Lutz Richter

Quellen

(1) Als ich den Film damals sah, ahnte ich nicht, dass ich einmal ein ganzes Stück mit einem so liebenswerten Menschen gehen würde. Aber Vorsicht! Jeder dieser Typen ist einzigartig, was jede Klassifizierung unbrauchbar macht.

(2) Wikipedia-Artikel »Europäische Gottesanbeterin«; https://de.wikipedia.org/wiki/Europäische_Gottesanbeterin (aufgerufen am 5.8.2024).

(3) Neurowissenschaftliche Forschung ist heute ein Netzwerk von naturwissenschaftlichen Disziplinen, wie etwa Physiologie, Psychologie, Medizin, Biologie, Informatik, Künstliche Intelligenz (als Teilgebiet der Informatik) und Mathematik.

(4) Persönliches Leid in mathematischen Gleichungen auszudrücken zu können hieße, die Relativitätstheorie mit der Quantenphysik in Einklang gebracht zu haben.

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